So meldeten sich jährlich im Durchschnitt 350 Menschen, die Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen können, sagte Leber und fügte hinzu: ”Es sind immer neue Klienten, die zu uns kommen.” Das Problem sei nicht, dass die Leute nicht wirtschaften könnten; vielmehr seien für dieses Dilemma oft Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse oder langjährige Armut in Familien verantwortlich. Einigkeit bestand darüber, dass ”Ökonomen die Welt regieren”, wie Elke Kurtz sagte, und dass an Gewinnmaximierung orientierte Wirtschaftsverbände der arbeitenden Bevölkerung zunehmend Leiharbeit und niedrige Löhne zumuteten.
Kritik, die Arbeitsagentur würde mit niedrigen Regelsätzen die Langzeitarbeitslosen unter Druck setzen, relativierte Klaus Theato, Geschäftsführer des Jobcenters Donnersbergkreis. Erstens habe man keinen Einfluss auf die Höhe der Sätze, und zweitens wolle man Hilfsbedürftigkeit beseitigen. ”Wir müssen dafür sorgen, dass junge Menschen nicht über zu lange Zeit arbeitslos bleiben”, sagte Theato.
Elmar Funk, evangelischer Pfarrer im Ruhestand, und Gründer der Initiative für Menschen in Not im Donnersbergkreis und einer der ersten, der Bedürftige mit Nahrungsmitteln versorgte, zeichnete ein widersprüchliches Bild. Einerseits sei zu beobachten, dass ein erheblicher Teil der Gesellschaft in Armut lebe. Auf der anderen Seite sehe er auch ”immer wieder Spenden und unheimlich viel Hilfsbereitschaft”. Als Beispiel nannte er die Kirchheimbolander Tafel, die Bedürftige mit ausrangierten Nahrungsmitteln aus den Supermärkten versorgt.
Dass die Zahl der Tafeln seit der ersten Gründung 1993 in Berlin deutschlandweit massiv zugenommen hat - heute liegt die Zahl bei etwa 1000 Einrichtungen - sei kein gutes Zeichen, kritisierte Politologin Luise Molling. Auch wenn ehrenamtliches Engagement prinzipiell lobenswert sei, die Tafeln dienten einem System, ”in dem Bekämpfung von Armut zunehmend privatisiert wird”, sagte die Wissenschaftlerin, die für ein Forschungsprojekt Interviews mit Tafelnutzern geführt hat. Molling, die politisch bei der Partei Die Linke beheimatet ist, hat das ”Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln” mitgegründet. Die Privatisierung der Armenhilfe - neben Tafeln zählt sie auch Kleiderkammern und Secondhand-Läden dazu - entlasse den Staat aus der Verantwortung und demütige Hilfsempfänger: ”Dass Tafeln schon so lange existieren, ist ein Skandal.”
Vielmehr sei es wichtig, die Gründe für die Armut zu beseitigen. Dazu zählte Molling schlechte Bezahlung im Niedriglohnbereich und die niedrigen Sätze bei Hartz IV und Sozialhilfe, die teilweise unterhalb der Armutsgrenze lägen. In Interviews mit Betroffenen sei deutlich geworden, dass viele Menschen große Hemmungen überwinden müssten, um sich und die Familie auf diese Weise zu ernähren: ”Ich habe bei den Tafeln niemanden ohne Scham getroffen”, sagte Luise Molling. Hinzu komme, dass Arme bei den Tafeln vor allem Arme träfen, was zu einer Parallelgesellschaft führe.
Das Prinzip Tafel sei entstanden, weil man Obdachlosen helfen wollte. Heute mache diese Klientel jedoch nur noch zwei Prozent der Bedürftigen aus, die sich in den Einrichtungen versorgen. Der größte Teil der mittlerweile 1,5 Millionen Tafelnutzer seien Rentner, Hartz-IV-Empfänger und Kinder. (stwo)